Sichtbarmachung der Viren
Quelle: D.H. Krüger, P. Schneck, H. R. Gelderblom, The Lancet 2000; 355: 1713-17, Nummer 9216, 13. Mai 2000
Originatitel: Helmut Ruska und die Sichtbarmachung der Viren
Institut für Virologie (Prof. Dr. med. D. H. Krüger) und Geschichte der Medizin (Prof. Dr. med. P. Schneck), Universitätsklinikum Charité, Humboldt Universität, D-10098 Berlin; und Robert Koch Institut, D-13353 Berlin (Prof. Dr. med. H. R. Gelderblom)
Korrespondenz an: Prof D. H. Krüger (e-mail: detlev.kruger@charite.de)
Inhaltsübersicht
• Einleitung
• Die Bakterienzelle
• Unsichtbare, geheimnisvolle Krankheitserreger
• Sichtbarmachung der Viren
• Weitere Anwendung in der Virusforschung
• Wissenschaftliche Tradition der Charité
• Anmerkungen
Einleitung
1939 wurde das “Archiv für die Gesamte Virusforschung” - (heute: “Archives of Virology”) - die erste internationale Fachzeitschrift für Virologie - gegründet. Eine Arbeit in dem 1940 komplettierten Band 1 berichtete über die Bedeutung der “Ultramikroskopie” für die Erforschung der Natur der Viren. Verfasser war Helmut Ruska (1908-1973)[1], ein junger Assistent der Inneren Medizin. Den Artikel hatte er gemeinsam mit seinem Bruder Ernst Ruska (1906-1988) und seinem Schwager Bodo von Borries (1905-1956) verfasst. Ernst Ruska erhielt 1986 den Nobelpreis für “seine grundlegende Arbeit in der Elektronenoptik und für die Entwicklung des ersten Elektronenmikroskops” - 13 Jahre nach dem Tod seines Bruders Helmut Ruskas. Helmut Ruska (Bild 1) ist heute wenig bekannt, doch spielte er während der frühen Entwicklung der Elektronenmikroskopie eine wesentliche und wichtige Rolle. Durch sein Interesse an der Objektpräparation und besonders der Anwendung des Elektronenmikroskopie in der Biomedizin war er eine wichtige Antriebskraft bei der Entwicklung dieses Instruments, das zu einem bedeutenden Werkzeug der biomedizinischen Wissenschaften wurde.
Die Bakterienzelle
Ein großer Schritt zu unserem heutigen Verständnis der Lebensvorgänge war die Möglichkeit, Strukturen und Mikroorganismen zu analysieren, die zu klein sind, um sie mit bloßem Auge zu erkennen. Im 17. Jahrhundert wurde der erfolgreiche Anfang gemacht, als Antonii van Leeuwenhoeck (1632-1723) Spermien, Erythrozyten und Bakterien mit Hilfe eines sehr einfachen, von ihm selbst entwickelten Lichtmikroskops sichtbar machte. Er baute mehr als 500 Mikroskope, die mit durchfallendem Licht und ausgestattet mit einer einzelnen bi-konvexen Linse arbeiteten. Diese Linsen waren größtenteils von ihm selbst geschliffen und poliert worden. Seine Befunde veröffentlichte er in vielen Briefen an die Royal Society in London: Sie öffneten den Weg in eine neue, bisher un-sichtbare Welt und ermöglichten erstmals, Mikroben als Verursacher für verheerende Infektionskrank-heiten zu erkennen.[2,3] Der Fortschritt in der Abbildung „der Mikrowelt” ließ hohe Erwartungen aufkommen; so formulierte Robert Hooke 1665: “mit dem Mikroskop ist nichts klein genug, um sich unseren Nachforschungen zu entziehen.”[4] Es zeigte sich, daß Hookes Prognose zu optimistisch war - nicht zuletzt auch wegen vieler bis dahin ungelöster optischer und mechanischer Probleme. Dennoch ist Leeuwenhoeck’s Leistung heute als Grundlage der wissenschaftlichen Mikrobiologie und der Biowissenschaften anerkannt.
In den folgenden Jahrhunderten wurde die Lichtmikroskope weiterentwickelt und zunehmend erfolgreich für die Erforschung von Geweben und Infektionserregern genutzt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschrieb Robert Koch (1843 - 1910) in systematischen Studien erstmals verschiedene Mikroben als Ursache wichtiger Infektionskrankheiten (Milzbrand durch Bacillus anthracis im Jahr 1876; Tuberkulose durch Mycobacterium tuberculosis 1882; Cholera durch Vibrio cholerae 1883)[5]. Kochs erfolgreiche Studien basierten auf dem, was später die Koch-Henle-Postulate genannt wurden: Der Nachweis des regelmässigen Vorkommens einer bestimmten Bakterienart bei einer bestimmten Krankheit durch die regelmässige Anzucht eines spezifischen Erregers und die Reindarstellung von Einzelkolonien auf künstlichen Nährböden (Erregerisolierung), die Dokumentation der speziellen Erreger-Morphe durch das Lichtmikroskop und die experimentelle Erzeugung der Krankheit in einem geeigneten Tier durch den angezüchteten Erreger, gefolgt von dem endgültigen mikroskopischen Nachweis der Übereinstimmung der Bakterien.
Unsichtbare, geheimnisvolle Krankheitserreger
Doch trotz aller Fortschritte bei der Sichtbarmachung von Bakterien gab es zunehmend Hinweise auf die Existenz von Erregern, die zu klein waren, um sie mit dem Lichtmikroskop zu sehen. Bei ihren Untersuchungen zur Maul- und Klauenseuche bei Rindern in den Jahren 1897-1898 beschrieben Friedrich Löffler (1852-1915) und Paul Frosch (1860-1928) ein infektiöses Agens in der Bläschenflüssigkeit der erkrankten Tiere, das weder auf künstlichen Nährböden angezüchtet noch im Lichtmikroskop dargestellt werden konnte. Dieser Erreger wurde nicht von bakteriendichten Filtern zurückgehalten und löste nach Übertragung auf ein gesundes Rind oder Schwein wieder die Krankheit aus. Auch nach starker Verdünnung rief das Filtrat Krankheitssymptome hervor. Durch wiederholte Injektionen von Tier zu Tier gewannen Löffler und Frosch die Überzeugung, daß die Krankheit nicht durch ein Toxin, sondern durch einen ansteckenden, sich vermehrenden Krankheitserreger - ein Virus - verursacht sein müsste.[6] Bei Pflanzen wurde als Ursache der übertragbaren Tabakmosaik-Krankheit von Dimitri Ivanovski (1864-1920) im Jahre 1892 und noch präziser 1898 von Martinus Beijerinck (1851-1931) ein filtrierbarer, sich in der Tabakpflanze vermehrender Erreger beschrieben. Schliesslich hatten 1915 Frederick W. Twort (1877-1950) und - möglicherweise unabhängig von dessen Arbeit - auch Felix d’Herelle (1873-1949)[8,9], 1917 Erreger beschrieben, die sich in Bakterien vermehrten und sie zerstörten, die aber zu klein waren, um sie unter dem Lichtmikroskop zu sehen.
So entwickelte sich im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert allmählich eine klare Unterscheidung zwischen den im Lichtmikroskop darstellbaren Bakterien und anderen geheimnisvollen, ansteckenden Erregern[10]. Das aufkommende Virus-Konzept basierte auf den Eigenschaften dieser Erreger, bakteriendichte Filter zu passieren, auf ihrer Unsichtbarkeit für das Lichtmikroskop und ihrer Unfähigkeit, sich außerhalb einer infizierten Zelle, d.h. auf künstlichen Nährböden zu vermehren. Diese negativen Definitionen ließen die Frage offen, ob diese neue Klasse von Erregern spezifische Partikel-Strukturen oder eher ein “contagium fluidum vivum” (Beijernick) darstellten, was durch Mangel an Wissen nur als ansteckende Flüssigkeit definiert ist.
Die Grenzen der Lichtmikroskopie sind von den Wellenlängen des sichtbaren Lichts gesetzt - diese liegen zwischen 400 und 700 nm. Aus optischen Gründen - folgend der berühmten Formel Ernst Abbes (1840-1905): dmin:l/n sin a - liegt die maximale Auflösung des Lichtmikroskops bei ungefähr der Hälfte der Wellenlänge, also bei etwa 300 nm. Dieser Wert entspricht etwa dem Durchmesser eines sehr kleinen Bakteriums. Viren, die offenbar sehr viel kleiner sind, konnten daher gar nicht im Lichtmikroskop gesehen werden. Um eine jenseits seiner Leistung liegende Vergrösserung zu erzielen, würde man ein neuartiges optisches Gerät benötigen, wie Ernst Abbe es 1873[11] voraussagte. Wie wir heute wissen, werden beschleunigte Elektronen mit ihrer viel kürzeren Wellenlänge in entsprechenden Mikroskopen eingesetzt, um Strukturen bis zu einem Bereich von 1 nm zu untersuchen.
Sichtbarmachung der Viren
Fast drei Jahrhunderte mußten seit Leeuwenhoeck’s Entdeckungen vergehen - jedoch nur 70 Jahre nach Abbés Visionen - ehe die Viren unmittelbar beobachtet werden konnten. Diese Entwicklung war nicht nur entscheidend für das rationale Verständnis der natürlichen Zusammenhänge einiger ansteckender Krankheiten, sondern verhalf der Virusforschung, eine grundlegende Wissenschaft zu werden. Vor 60 Jahren wurde der erste ausführliche Bericht veröffentlicht.1 Helmut Ruska, der erste Autor, arbeitete als Internist an der medizinischen Hochschule Charité der Berliner Universität. Die Veröffentlichung “Die Bedeutung der Übermikroskopie für die Virusforschung” faßte die intensiven Bemühungen Helmut Ruskas zusammen, der in enger Zusammenarbeit mit den Elektroingenieuren Ernst Ruska und Bodo von Borries dieses völlig neue Feld erschloß.
Helmut Ruska wurde am 7. Juni 1908 in Heidelberg als sechstes von sieben Kindern des Wissenschaftshistorikers Julius Ruska (1867-1949) geboren. Er studierte von 1927-1932 in Berlin, Innsbruck und Heidelberg, wo er mit seiner Dissertation über Biochemie unter Aufsicht von Ludolf von Kehl (1861-1937) zum Doktor promovierte. Zwischen 1933 und 1940 arbeitete er in verschiedenen Krankenhäusern in Heidelberg und Berlin. In Berlin begann er sich zunehmend auf die wissenschaftlichen und praktischen Probleme der Elektronenmikroskopie zu konzentrieren, vor allem auf ihre Anwendung bei biomedizinischen Problemen.
Während der frühen 40er Jahre veröffentlichte Helmut Ruska ungefähr 20 Artikel über submikroskopische Strukturen von Bakterien, Parasiten und verschiedener Viren - z.B.: Pockenviren [1,12] (Bild 2), Tabak-Mosaik-Viren,[13] Varicella Zoster Viren[14] und Bakteriophagen (bakterielle Viren).[15] Er faßte seine Hauptforschungen über die Natur and Biologie der Bakteriophagen in einer Dissertation zusammen und wurde 1943 Dozent für Medizin an der Berliner Universität. Während der folgenden Jahrzehnte wurden Bakteriophagen und das Tabak-Mosaik-Virus zu bevorzugten Objekten der Biophysik und Genforschung. Forschungen über die Biologie dieser verschiedenen Viren bildeten die wichtigsten Grundlagen der modernen Virologie und Molekulargenetik.[16,17]
Helmut Ruska erkannte bald, daß die bis dahin übliche, auf klinischen Symptomen und Organspezifität beruhende Klassifizierung der Viren keine naturwissenschaftlichen Kriterien genügende Ordnung darstellte: 1943 unterbreitete er den Vorschlag zur Klassifizierung aller Viren nach morphologischen Kriterien, also nach virustypischen Eigenschaften, unabhängig davon, ob die Viren Wirbeltiere, Bakterien oder Pflanzen befallen[18]. Dieses Klassifizierungsprinzip gilt heute noch bei der Bestimmung von Viren. Auf Grund von Messungen und Zählungen mit Hilfe des Elektronenmikroskops folgerte Helmut Ruska, daß Viren sich - anders als die Bakterien - ohne Partikelwachstum und Zellteilung vermehren[18].
Da Helmut Ruska hauptsächlich in deutschen Zeitschriften veröffentlichte und Deutschland während der Nazizeit und des Zweiten Weltkrieges isoliert war, wurden seine Arbeiten international nicht sehr bekannt. So kam es, daß der amerikanische Biophysiker Thomas F. Anderson (1911-1991), der ohne Wissen um die in Berlin bereits erarbeiteten Erkenntnisse viele grundlegende Untersuchungen wiederholte, schrieb: “Als ich 1940 das erste Mal von dem Elektronenmikroskop hörte, von dem man sagte, daß es in Deutschland entwickelt worden sei, schien es mir fast, als ob dies ein Streich der Nazis gegen den Rest der Welt sei. Wir müssen uns dabei daran erinnern, daß unsere Beziehungen zu Deutschland 1940 so angespannt waren, daß es schwierig war, aktuelle Literatur aus diesem Land zu erhalten.”[16]
Das erste Elektronen-”Vergrösserungsglas” von Ernst Ruska und Max Knoll (1897-1969) im Jahre 1929 konstruiert, bestand aus einer einzigen magnetischen Linse: Es war im Wesentlichen ein Kathodenstrahl-Oszillograph, bestehend aus einer Gasentladungsröhre mit kalter Kathode, einer Anode und einer besonderen elektromagnetischen Spule, um den Elektronenstrahl zu bündeln und das Bild des Objekts, einer ringförmigen Blende, auf einem fluoreszierenden Bildschirm darzustellen. Als Experimentalmodell zeigte es lediglich die Möglichkeiten der neuen Abbildungsmethode auf. Das nächste Instrument wurde 1931 (Bild 3) fertiggestellt und war schon ein richtiges Mikroskop, ausgestattet mit zwei elektromagnetischen Linsen, die in einer zweistufigen Abbildung eine 16-fache Vergrößerung zuliessen.20 In Berlin mühten sich damals mindestens drei Forschergruppen um technische Fortschritte in der Konstruktion von Elektronenmikroskopen.[21-23] Doch Mitte der 30er Jahre war die Situation durchaus kritisch - einflussreiche Biomediziner und Wissenschaftler zweifelten daran, dass Elektronen in der Biomedizin für die hoch vergrössernde Abbildung genutzt werden könnten.[21-23] Die Möglichkeit, irgendwelche im Lichtmikroskop nicht sichtbare Strukturen - wenn sie denn überhaupt in der Natur existierten - mit Hilfe des neuen Abbildungsprinzips darstellen zu können, wurde ernsthaft bezweifelt, weil man sich die Materie in einen Zustand ständiger Veränderung vorstellte. Dies würde prinzipiell eine Darstellung solcher Mikrostrukturen verhindern. Aber auch wenn man definierte molekulare Strukturen voraussetzte, vermutete man, daß das Elektronenmikroskop und die notwendige Probenvorbereitung nicht im Stande seien, derartige Feinstrukturen korrekt wiederzugeben: die Struktur biologischer Objekte würde durch ihre vollständige Entwässerung im Vakuum des Instruments zerstört werden - das Objekt würde schliesslich im intensiven Elektronenstrahl des Mikroskops zu Asche verbrennen.
Der grosse Enthusiasmus des Mediziners Helmut Ruska motivierte während dieser kritischen Phase die Physiker Ernst Ruska und Bodo von Borries, das Elektronenmikroskop weiter zu entwickeln für die Erforschung von Lebens- und Krankheitsprozessen. Mit Ausdauer und gegenseitiger Motivation überwanden sie zahlreiche Hindernisse. Entscheidende Unterstützung und Argumente für die Weiterentwicklung zu einem gut funktionierenden Forschungsinstrument kamen von Richard Siebeck (1883-1965), dem einflussreichen Leiter der 1. Medizinischen Universitätsklinik der Charité. In einem weitsichtigen Gutachten vom 2. Oktober 1936 unterstützte er dezidiert die Ideen Helmut Ruskas. Siebeck wies darauf hin, dass die Elektronenmikroskopie in der Lage sein sollte, fundamentale Beiträge zum Verständnis der normalen und pathologischen Anatomie, der Zellbiologie und der Infektionskrankheiten zu leisten, speziell bei Infektionen, deren Erreger im Lichtmikroskop nicht sichtbar gemacht werden können, wie Pocken, Windpocken, Masern, Mumps und Grippe.[20]
Zwei Firmen, Siemens & Halske in Berlin und Carl Zeiss in Jena waren in der Lage, die wirtschaftlichen und technischen Risiken der Entwicklung des Elektronenmikroskops zu übernehmen. Aus verschiedenen Gründen fiel die Entscheidung für Siemens. 1937 richtete die Firma das Laboratorium für Übermikroskopie in Berlin-Spandau ein, was die enge Zusammenarbeit Helmut Ruskas mit seinem Bruder Ernst und Bodo von Borries erheblich förderte. In diesem Rahmen wurden 1937/38 zwei weiterentwickelte Prototypen konstruiert (Bild 4); eines dieser Geräte wurde ausschliesslich von Helmut Ruska genutzt. Und im Jahre 1940 wurde ganz in der Nähe ein Gastlaboratorium mit vier Instrumenten unter Helmut Ruskas Leitung eingerichtet, ebenfalls für biomedizinische Anwendungen.
Irmela Ruska, die Witwe Ernst Ruskas, erinnert sich, dass die Forschungsarbeit meist nachts stattfand. Dafür gab es zwei Gründe: Erstens konnte man tagsüber nicht gegen die störenden mechanischen Erschütterungen schützen, die vom Betrieb der Fabrik herrührten. Ausserdem musste Helmut Ruska seinen Pflichten in der Klinik nachkommen, während die Physiker sich noch auf technische Aufgaben konzentrierten. Allerdings konnte Helmut Ruska diese klinischen Verpflichtungen nach den ersten erfolgreichen Untersuchungen reduzieren. Irmela Ruska erinnert sich lebhaft daran, wie sie mit Ernsts Schwester Hede von Borries die lange Reise zu Siemens unternahm, um den Männern Essen zu bringen.
In den frühen Tagen der Elektronenmikroskopie gab es noch nicht die heute in der Transmissions-Elektronenmikroskopie üblichen zuverlässigen Routine-Präparationstechniken, die Herstellung ultradünner Schnitte von Zellen oder Organen und die Negativkontrast- „Färbung” von Partikelsuspensionen mit Schwermetallsalzen. Ladislaus Marton (1901-1979) zeigte 1934 in Brüssel bei seinen frühen Versuchen zur elektronenmikroskopischen Abbildung, dass eine Behandlung mit Osmiumtetroxyd den Kontrast biologischer Objekte erhöhen kann.[24] Leider war Marton wegen fehlender finanzieller Mittel und der technischen Grenzen seines Instruments nicht in der Lage, diese vielversprechenden Studien weiterzuführen. Helmut Ruskas Arbeit konzentrierte sich auf die morphologische Charakterisierung von Partikeln: dafür entwickelte er geeignete Trägerfilme und beschrieb beispielhaft und detailliert Präparation und Auswertung.[25] Zur Kontrastierung der kleinen Objekte wendete er auch die Osmium-Räucherung an: Schwermetallbeschattung und Negativkontrastierung wurden dann viel später von anderen in die Präparation eingeführt.
Die Entscheidung von Siemens & Halske, das Ruska-Instrument zu höher Leistung und Serienreife zu entwickeln, wurde zweifellos durch die Tatsache unterstützt, daß Reinhold Rüdenberg (1883-1961) das Prinzip der Abbild mit Elektronen schon 1931 für Siemens & Halske hatte patentieren lassen, zu einer Zeit also, als es noch es keine einschlägige Entwicklung in der Firma gab. Rüdenberg, so betonte sein Mitarbeiter Max Steenbeck (1904-1981), war aber stets gut über die experimentellen Fortschritte bei Ernst Ruska und Max Knoll informiert.[26,27] Anfangs in der Patentabteilung tätig, wurde er 1923 Chefelektriker der Firma. Ein Fall von Viruserkrankung in seiner Familie mag sein Interesse an technischen Lösungen zur Sichtbarmachung kleinster Erreger geweckt haben.[28] 1939 startete Siemens & Halske die Serienproduktion von Transmissions-Elektronenmikroskopen.[20] Trotz vieler hinderlicher Beschränkungen und Schwierigkeiten im Kriegs-Deutschland wurden bis 1945 mehr als 40 Mikroskope gebaut.[23]
Weitere Anwendung in der Virusforschung
Ein anderer wichtiger Grund für diese schnelle Entwicklung waren die vielen offenen Fragen, die in dieser Zeit in Biologie und Medizin akkumulierten. Es gab definitiv einen Bedarf für dieses neue Instrument, und so unterstützten sich die Entwicklungen der Elektronenmikroskopie und Virusforschung und ihre Ergebnisse wechselseitig. Erstmals wurden Strukturen und Objekte direkt sichtbar, die früher nur durch indirekte Methoden beschrieben werden konnten, etwa durch Filtration oder Ultrazentrifugation zur Bestimmung von Partikelgrößen. Die Möglichkeit zur Darstellung einzelner Viruspartikeln gab dem bis dahin theoretischen Viruskonzept eine reale Basis und öffnete das Tor zu einer Flut weitreichender Kenntnisse über eine ganz neue Welt von Krankheitserregern.
Auch später half die Elektronenmikroskopie zu Fortschritten in Virusforschung und Molekularbiologie. Erwähnt seien hier nur zwei, zu Nobel-Preisen führende Forschungsrichtungen in Zusammenhang mit Viren, die letztlich vom Elektronenmikroskop abhingen. Wendell Meredith Stanley (1904-1971) zeigte, dass Tabakmosaik-Virus kristallisiert werden konnte und dass die Kristalle aus viralem Protein bestehen. Und Aaron Klug (1926) nutzte das Prinzip der Elektronen-Diffraktion zur Aufklärung der dreidimensionalen Struktur verschiedener Viren. Heute hat das Gebiet der Elektronenmikroskopie zusammen mit einer Reihe spezieller Vorbereitungs- und Analyseverfahren einen hohen technischen und wissenschaftlichen Stand erreicht: sie ist ein nützliches Werkzeug in der modernen Mikro-, Zell- und Molekularbiologie - und unentbehrlich für Studien zur Virus-Zellwechselwirkung und in der Virusdiagnostik als Werkzeug der Rapid Viral Diagnosis.[29]
Wissenschaftliche Tradition der Charité
Helmut Ruska setzte die Elektronenmikroskopie nicht nur zur Erforschung von Viren ein: Begeistert von den neuen Möglichkeiten studierte er schon während der 40er Jahre auch viele andere Struktur-Funktionsaspekte in der Biomedizin. So war er nicht nur an der Aufklärung der Glykogensstruktur und des Prozesses der Blutgerinnung beteiligt, er beschrieb auch die Feinstruktur des Insektenmuskels sowie die irisierenden Haut von Regenwürmern und das Pflanzenchlorophyll. 1948 wurde Helmut Ruska Professor an der Berliner Universität, die im Jahre 1949 in Humboldt Universität umbenannt wurde. Gleichzeitig arbeitete er als Leiter der Abteilung für Mikromorphologie an der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Buch und später am Max-Planck-Institut in Berlin-Dahlem. Von 1952 bis 1958 leitete er die Abteilung für Mikromorphologie am New York State Department of Health in Albany. Dann nahm er die Berufung der Universität Düsseldorf zum Direktor des Instituts für Biophysik und Elektronenmikroskopie an.
Helmut Ruska starb am 30. August 1973 in Düsseldorf. Mit seinem frühen Tod verpasste er die Möglichkeit, zusammen mit seinem Bruder Ernst Ruska den Nobelpreis zu erhalten, als letztlich 1986 die Entwicklung der Elektronenmikroskopie ihre späte Anerkennung fand. Der Wissenschaftler Helmut Ruska ist in eine Gruppe herausragender Persönlichkeiten der Charité (gegründet 1710 vom Preussenkönig Friedrich I. als militärische und zugleich auch zivile medizinische Hochschule) und der Berliner Universität einzureihen: Er steht neben dem Pathologen Rudolf Virchow (1821-1902), dem Bakteriologen Robert Koch, dem Bakteriologen und Virologen Friedrich Loeffler, dem Immunologen und Begründer der Chemotherapie Paul Ehrlich (1854-1915) und dem Neurologen Hans-Gerhard Creutzfeldt (1885-1964). Helmut Ruskas Erfolge rechtfertigen seinen Platz unter diesen „Spitzen- Forschern”, und zugleich ist er als einer der Gründer der Virusforschung an der Charité zu sehen. Man kann sich leicht vorstellen, wie begeistert er wäre, wenn er sehen könnte, wohin u. a. heute seine Pionierarbeit vor 60 Jahren geführt hat: Zu den beeindruckenden drei-dimensionalen und hochaufgelösten Strukturinformationen über Viren und ihre Bestandteile, die uns heute dank der Kryo- und Immun-Elektronenmikroskopie zur Verfügung stehen.
Die Autoren danken Peter W. Hawkes (Toulouse) und Kenneth Murray (Edingburgh) für das kritische Lesen des Manuskriptes und Carla Ruska, Irmela Ruska, Erdman A. Ruska, Thomas Ruska, Lotte Lambert, Cilly Weichan, Siemens und den anonymen Gutachtern bei LANCET für hilfreiche Unterstützung, Dokumente und Vorschläge
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Anmerkungen
[1] Ruska H, von Borries B, Ruska E. Die Bedeutung der Übermikroskopie für die Virusforschung. Arch ges Virusforsch 1940; 1: 155-69.
[2] Leeuwenhoek A. Arcana naturae detecta. Delft: H Krooneveldt, 1695/1697.
[3] van Zuylen J. The microscopes of Antoni van Leeuwenhoek. J Microscopy 1981; 121: 309-28 [PubMed].
[4] Hooke R. Micrographia. London: Mortyn and Allestry, 1665.
[5] Koch R, Schwalbe J, eds. Gesammelte Werke von Robert Koch. Leipzig: Thieme, 1912.
[6] Loeffler F, Frosch P. Berichte der Kommission zur Erforschung der Maul–und Klauenseuche beim Institut für Infektionskrankheiten in Berlin. Centralbl Bakt Parasitenk Infektionskrankh Abt I 1898; 23: 371-91.
[7] Beijerinck MW. Over een contagium vivum fluidum als oorzaak van de vlekziekte der tabaksbladen. Versl Gew Verg Wiss en Natuurk Afd, Kon Aka Wetensch Amst 1898; 7: 229-35.
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[9] d’Hérelle F. Sur un microbe invisible antagonistic des bacilles dysentérique. C R Acad Sci Paris 1917; 165: 373-75.
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[11] Abbe E. Beiträge zur Theorie des Mikroskops und der mikroskopischen Wahrnehmung. M Schultze’s Arch Microsc Anat 1873; 9: 413-68.
[12] von Borries, Ruska E, Ruska H. Bakterien und Virus in übermikroskopischer Aufnahme. Klin Wochenschr 1938; 17: 921-25.
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[14] Ruska H. Über das Virus der Varicellen und des Zoster. Klin Wochenschr 1942; 22: 703-04.
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[17] Zaitlin M. Tobacco mosaic virus and its contributions to virology. ASM News 1999; 65: 675-80.
[18] Ruska H. Versuch zu einer Ordnung der Virusarten. Arch ges Virusforsch 1943; 2: 480-98.
[19] Murphy FA, Fauquet CM, Bishop DHL, et al. Sixth Report of the International Committee on Taxonomy of Viruses (ICTV): classification and nomenclature of viruses. Arch Virol Suppl 10. Wien, New York: Springer, 1995.
[20] Ruska E (translated by Mulvey T). The early development of electron lenses and electron microscopy. Stuttgart: Hirzel, 1980.
[21] Brüche E, Haagen E. Ein neues, einfaches Übermikroskop und seine Anwendung in der Bakteriologie. Naturwissenschaften 1940; 28: 113-27.
[22] von Ardenne M. Ergebnisse einer neuen Elektronenmikroskopanlage. Naturwissenschaften 1940; 28: 113-27.
[23] Wolpers C. Electron microscopy in Berlin 1928-1945. Adv Electronics Electron Phys 1991; 81: 211-29 [PubMed].
[24] Marton L. Electron microscopy of biological objects. Nature 1934; 133: 911.
[25] Ruska H. Übermikroskopische Untersuchungstechnik. Naturwissenschaften 1939; 27: 287-92.
[26] Hawkes PW. Complementary accounts of the history of electron microscopy. Adv Electronics Electron Phys 1985; suppl 16: 589-618.
[27] Ruska E. The emergence of the electron microscope: connection between realization and first patent application, documents of an invention. J Ultrastruct Molec Struct Res 1986; 95: 3-28 [PubMed].
[28] Rüdenberg R. The early history of the electron microscope. J Appl Phys 1943; 14: 434-36.
[29] Biel SS, Gelderblom HR. Diagnostic electron microscopy is still a timely and rewarding method. J Clin Virol 1999; 13: 105-19 [PubMed].
Dieser Text wurde mit freundlicher Genehmigung der Verfasser sowie der Redaktion The Lancet veröffentlicht.